Fairplay 146 – Rezension: Die Ratten von Wistar

Das Fairplay Magazin ist ein Print-Magazin und gibt es natürlich nur auf Papier. Das macht es schwierig für alle, die wissen wollen, ob die Fairplay etwas für sie ist. Deshalb veröffentlichen wir jede Woche ausgewählte Artikel aus älteren Ausgaben zum Reinlesen. Das Rascheln der Seiten und überhaupt die ganze Haptik kommt dabei natürlich zu kurz, aber trotzdem: Viel Spaß beim Lesen!

Das süße Leben nach der Flucht

Die Wissenschaftlerin Dr. Helen Dean King ist, überspitzt formuliert, die Mutter aller Ratten. Sie lebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Philadelphia und ging ihrer täglichen Beschäftigung im renommierten Wistar-Institut nach. In diesem biomedizinischen Institut werden schwerpunktmäßig Onkologie, Immunologie, Infektionskrankheiten erforscht und Impfstoffe entwickelt. Man muss kein Nobelpreisträger sein, um zu dem Schluss zu gelangen, dass auch Ratten in diesem Institut ihre Heimat haben. Ratten leben und sterben in solchen Einrichtungen, um Menschenleben zu retten. Problematisch, stellt der Mensch doch seine Gesundheit über das Leid von Tieren. Zurück zu Dr. Helen Dean King: Sie züchtete aus der wilden Wanderratte das erste standardisierte Labortier, die Wistar-Ratte aus der mehr als die Hälfte aller heute lebenden Laborratten hervorgegangen sind.

Diese Ratten also sind es, die aus unserer Spieleschachtel schlüpfen. Unseren ist die Flucht aus dem Wistar-Institut gelungen. Flüchtende, egal ob aus dem Gefängnis oder einem Labor, haben naturgemäß die gleichen Bedürfnisse: ein neues Zuhause und Nahrung zu finden.

Das ist der Beginn der Geschichte von Flame, Pasteur, Hippokrates und Kuliscioff, den äußerst klugen Laborratten, die der Festung Wistar entkommen konnten. Sie haben begonnen, sich unweit einer Bauernkate ein neues Zuhause unter einer großen Eiche zu graben. Auf dem Gehöft lassen sich unzählige nützliche Dinge finden, die von Menschen als Schrott unbeachtet bleiben. Die cleveren Laborratten haben für alles Verwendung und erfinden die tollsten Dinge, die ihnen helfen ihren Bau zu erweitern und das Leben angenehm zu machen. Das mit dem süßen Leben spricht sich herum, immer mehr Ratten aus der Gegend schließen sich der Kolonie an. Mit diesem Anwachsen erwachen allerdings auch mehr und mehr Unstimmigkeiten, und so wird der Ruf nach einem Anführer laut.

Hier beginnt unser Spiel. Wir suchen die Oberratte, die Anführerin aller Bewohner der Kolonie. Zahlreiche Aufgaben stellen sich uns, wer diese innerhalb von fünf Tagen am erfolgreichsten bewältigt, gewinnt den Wettbewerb.

Jeder hat auf einem Tableau seinen eigenen Teil des Rattenbaus. Darauf finden sich reichlich Spielkomponenten, die nur darauf warten gespielt zu werden, denn darunter warten Punkte und Boni. Schlafende Ratten können geweckt werden und schließen sich dann der eigenen Familie an. Das zentrale Spielbrett zeigt die Nachbarschaft, also Bauernhaus, den Hof und Wald und so weiter. Hier können die Ratten sich alles beschaffen, was sie benötigen um ihre Bauten zu vergrößern, aber eben auch für die Bewältigung der Aufgaben, die vor allem im Haus auf sie warten. Das was dem Spiel Besonderheit einhauchen soll, erwartet uns in Form einer drehbaren Aktionsscheibe. Die Architektur dieses Aktionswahlplatzes ist gewissermaßen der Clou von RATS OF WISTAR. Das Spielbrett zeigt an dieser Stelle drei verschiedene Bereiche: Wald, Garten, Untergrund. Die auf ihn geschraubte, drehbare Aktionsscheibe wiederum ist in sechs Segmente mit verschiedensten Einsetzfeldern für Bonusaktionen unterteilt. Das bedeutet, immer zwei ihrer Segmente befinden sich in einem dieser Bereiche. Die Chefratten wandern nun auf ein gewünschtes freies Aktionsfeld der Scheibe, welches allerdings die Bonus- und nicht die Hauptaktion zeigt. Dem Segment ist schlicht eine solche zugeordnet. In zweierlei Hinsicht ist das bedeutsam. Zum einen können dann unter Umständen noch andere Chefratten die Hauptaktion mit einem weiteren freien Einsetzfeld auslösen, sofern sie noch keine eigene Ratte in diesem Segment haben. Zum anderen wohnt dieser Architektur eine interessante Dynamik inne, denn am Ende eines Tages, wird die Scheibe um ein Segment gedreht, also ergeben sich Runde für Runde immer wieder neue Kombinationen aus Haupt- und Bonusaktion. Damit aber noch nicht genug an mechanischen Gimmicks. Die Chefratten sind clever, aber schwach. Ihnen fehlt es an der nötigen Kraft ohne Unterstützung aktiv zu werden. Glücklicherweise stehen die Arbeiterratten, die im Hof, im Wald oder unter der Erde auf ihren Einsatz warten, an ihrer Seite. Auch sie wirken also mit und verstärken immer die zwei Hauptaktionen ihres Bereiches. Diese sind in ihrer Wichtigkeit nicht unbedingt den Bonusaktionen überlegen. Aber potentiell mächtiger. Wenn dem Boss vier Ratten zur Seite stehen, so kann dieser Tross beispielsweise vier neue Höhlen graben, vier neue Ratten rekrutieren oder reichlich vom begehrten Holz oder Metall herbeischaffen. Bonusaktionen hingegen können nicht verstärkt werden. Sie erlauben unter anderem das Ausspielen von Karten, das Erfüllen von Missionen oder das Anheuern einer hilfsbereiten Gastmaus. Enorm wichtig kann auch die Bonusaktion sein, die es erlaubt Ratten umherwandern zu lassen. Die zeigen sich nämlich von einer ziemlich statischen Seite und verharren an dem Ort, an welchem sie das Szenario betreten haben. Permanent fehlt es an Personal, besonders zu Beginn des Spiels, daher stellt dieser Bewegungsmangel ein Problem dar.

Zurück zu den Hauptaktionen. Eine bisher unerwähnte erlaubt das Wählen von Karten aus der Auslage. Diese sind die genialen Erfindungen der schlauen Nager. Hilfreich, denn einmal ausgespielt, können sie kostbare Effekte oder dauerhafte Verbesserungen, aber auch Punkte bescheren. Vor allem aber stellen sie einen Lernzuwachs verschiedener Fähigkeiten dar, wie Ausdauer, Geschick und Schnelligkeit. Diese Fähigkeiten sind für das Erfüllen von Missionen essenziell. Die letzte der Aktionen steuert die Ratten, die sich in der Bauernkate der Menschen aufhalten. Hier können sie umherlaufen, die Missionskarten lüften und Gastmäuse anwerben und auch die ein oder andere Ressource finden. Das Spiel hält obendrein eine kleine Auswahl an freien Zusatzaktionen bereit. Eine davon gibt der Ratte im Bauernhaus die Möglichkeit ein kleines Zelt aufzuschlagen. Denn wer eine Mission bewältigen möchte, ist auf diejenigen im jeweiligen Raum beschränkt, in welchem sich die Ratte aufhält. Das Zelt erweitert diese Auswahl um den Raum, in dem es steht. Das kann ausgesprochen hilfreich sein, denn die Konkurrenz schläft nicht, die Plätze auf den Missionen sind begehrt. Jede erfüllte Mission bringt unmittelbar Boni und dadurch, dass sie mit einem eigenen Marker als erfüllt angezeigt wird, kommt auf dem eigenen Tableau eine dauerhafte Verbesserung zum Vorschein. Nach fünf Runden wird abgerechnet, Punkte gibt es jetzt hauptsächlich noch für freigespielte Elemente auf dem eigenen Tableau, Gastmäuse und ausgespielte Karten.

RATS OF WISTAR ist ein klassisches Eurospiel mit italienischer Note. Ähnlich wie WOODCRAFT gaukelt es durch seine hübschen Zeichnungen und die niedlichen Details eine gewisse Leichtigkeit vor. Tatsächlich aber ist das Spiel komplex, verzahnt und hat eine beachtliche Lernkurve. Allein im Appendix sind fünfundachtzig Symbole erklärt und das sind nicht einmal alle. Während der ersten Spiele tauchen immer wieder Ungereimtheiten auf, die einen Blick in Regelheft oder Errata erfordern. Die Regeln sind durchaus gut strukturiert und verständlich geschrieben. Auch geht das Erklären erstaunlich leicht über die Lippen und vermutlich schneller als der Aufbau. Denn die Ratten kommen mit reichlich Material um die Ecke. Simone Luciani ist ja durchaus bekannt dafür, Spieler mit einer ganzen Fülle an Möglichkeiten und Zwängen zu konfrontieren. Das Spiel der Nager bildet dahingehend keine Ausnahme. Im Gegenteil. Sich bei gerade einmal fünfzehn Spielzügen der Herausforderung zu stellen einen funktionstüchtigen Werkzeugkoffer von Artefakten aufzubauen, um damit den eigenen Spielzügen die nötige Effizienz zu verleihen, eine Leistungsstarke Arbeiterfamilie auf die Beine zu stellen und so halbwegs weit in das Menschenhaus vorzudringen, ist geradezu schweißtreibend. Fehler können sich rächen und das Verschwenden von Teilen der eigenen Aktionen führt zu bitterlich ineffektiven Zügen. Eine wirklich rund laufende Maschine aufzubauen dürfte kaum gelingen. In RATS OF WISTAR geht es um viele Quäntchen, entscheidende Kleinigkeiten. Selbst als Bauchspieler gerät man ins Grübeln. Für Spieler, die jeden Zug durchrechnen dürfte es ein Fest sein, sich dem Spiel auf dem beschaulichen Bauernhof zu stellen.

Das Spiel hat mir gefallen, doch fehlt es mir ein wenig an Eleganz. Die vielen Zwänge verhindern eine spielerische Leichtigkeit und vermitteln mir ein holpriges Spielgefühl. Nach meiner Ansicht hätten sich einige Elemente besser nicht in die Schachtel geschlichen. Ziele funktionieren zum Beispiel ganz ähnlich wie Missionen, blähen das Spiel noch weiter auf ohne einen echten Mehrwert zu hinterlassen. Das eigentlich schön umgesetzte Thema tritt angesichts der vielen mechanischen Aktionen leider in den Hintergrund. Am Ende hinterlassen die Ratten keine schlechten, aber recht gemischte Gefühle.

Matthias Busse

Simone Luciani und Danilo Sabia: RATS OF WISTAR für 1 – 4 Personen ab 13 Jahren mit Illustration von Candida Corsi und Sara Valentino bei Cranio Creations 2023, Spieldauer 90 Minuten, Made in China