Editorial 110

Liebe Richterinnen und Richter,

… der Prozess ist eröffnet. Nicht, dass uns irgendeine Anklageschrift persönlich überreicht wurde. Das löst man heute eleganter im Internet. Hört Zeugen, wittert Manipulation, prangert fehlende Transparenz an, eröffnet aber immer die Anklage. Und was dann alles für Unwahrheiten ausgekübelt werden, die wiederum zu völlig falschen Schlüssen führen, ist schon eine wundersame Geschichte. Und nicht einer von diesen Menschen hat mit uns gesprochen, dafür lieber über uns. Und ich hab‘ sie mir alle gemerkt: Den Autor, die Rezensenten, den Redakteur und all die anderen auch. Und alles nur, weil … ja warum eigentlich?

Eigentlich dachte ich immer, dass alles klar ist mit Ihrer und unserer Scout-Aktion. In all‘ den Jahren, die wir die Aktion schon in Essen fahren, dürfte doch auch allen Mitspielern klar gewesen sein, was das Ergebnis der Scout-Aktion während der Messe ist. Ich zitiere mich mal selbst aus dem letzten Edi: „Die Scout-Liste ist nur eine Art Barometer, das unseren Standbesuchern einen Weg zu interessanten Neuheiten weist.“ Also keine hochwissenschaftliche Statistik, kein 100% reproduzierbares Ergebnis, aber dennoch für alle Beteiligten eine win-win-win-Situation.

Und natürlich ist die Scout-Aktion auch eine überaus ernste Angelegenheit für alle Querulanten, Hater und Trolle, die sich über mögliche Unzulänglichkeiten aufregen wollen und immer was zu kacken haben. Es ist ja auch verdammt ernst, denn der eine oder andere Verlag zieht seinen Vorteil daraus, bei uns mit seinem Spiel auf dem Regal und der Liste zu stehen. Zwangsläufig wird das (Kauf)Interesse geweckt, so oft wie das Regal fotografiert und die Liste abgeschrieben wird. Wir bieten da auch einen guten Service, gleich mit Standnummer.

Und genau das haben wir bei einem Verlag völlig falsch eingeschätzt. Der wollte uns ganz und gar nicht ein Exemplar für das Regal zur Verfügung stellen. Auf gar keinen Fall. Mein Knecht, der das Spiel gerne abgeholt hätte, wurde entsprechend abgefertigt. Und auf der Messe, bei all dem Stress und Lärm, kann dann schnell ein Wort zum anderen kommen. Weiß ich aus eigener Erfahrung. Was meinen Sie, wie es manchmal bei uns im Stall zugeht. Da wird gestritten und ausgeteilt, und am Ende kommt man doch gut miteinander klar, rauft sich zusammen und findet eine Übereinkunft. Dumm nur, wenn irgendein Zaungast gleich überall herumkrakelt, dass da gerade ein Streit war. Super, wenn der sich sogar noch einmischt, seinen Senf dazugibt und vor dem Ende davon galoppiert, um es seinen Freunden im Netz brühwarm zu erzählen. Da müsste man gleich einen Richter rufen und den Mann vor den Kadi stellen.

Dann lieber ganz sachlich. Für uns gänzlich irrational, dass a) der Verlag bockbeinig blieb und gar nicht irrational, sondern erwartbar, dass b) ein paar Pawlowsche Hunde deshalb angeschlagen haben. Aber warum die ganze Aufregung? Natürlich haben wir den Verlag nicht von der Scout-Aktion ausgeschlossen. Wir sind doch Profis. Nur aufs Regal ist er mit seinem Spiel nicht mehr gekommen, in der Liste aber vertreten. Allerdings nur, weil mich meine Stallknechte im Zaum gehalten haben. Ich hab‘ schließlich auch schon schnaubend vor (Klein)Verlegern gestanden, die mich mit einer Verpflichtungserklärung nötigen, mir ein mit „Rezensionsmuster“ vollgeschriebenes Cover aufdrücken oder mir überhaupt kein Rezensionsmuster geben wollten. Und doch haben wir uns später geeinigt, ganz ohne richterliche Beteiligung. Sehr beeindruckend, als ein Verleger mir ein oder zwei Messen später mit dürren Worten Rezensionsmuster in die Hand drückte: „I’ve changed my policy!“

Wenn wir schon die Party schmeißen, bei der alle vom Buffet essen dürfen, erwarten wir von jedem einen Beitrag. Die Scouts voten für die Spiele, die Verlage stellen auf Nachfrage ein Exemplar für das Regal zur Verfügung, wir machen die Auswertung. Dann läuft die Party, jeder kann Spaß haben. Wer nicht will, kommt eben nicht aufs Regal. Grundsätzlich ist uns aber jeder Gast willkommen, der sich an der Party beteiligen will. Außerdem gilt: Unsere Party, unsere Regeln. Ist doch bei Ihrer Party nicht anders. Ach ja, uns hat wegen des Shitstürmchens tatsächlich eine Kündigung erreicht. Allerdings von jemandem, der jetzt kündigen würde, wenn er denn ein Abo hätte. Wenn das ein Abonnent wäre, hätte ich dem auch gleich gekündigt. Aber warum soll ich mir solch absurde Mühe machen?

In diesem Sinne, Schöne Weihnachten!
Ihr Harry

4 Kommentare zu „Editorial 110“

  1. Tja … ohne dabei gewesen zu sein, lässt sich das schwer beurteilen. War dem Verleger denn klar, dass es nur ein "Regalexemplar" zum Zeigen sein soll? Hättet ihr die Box denn zum Messeende wieder zurückgebracht? Oder ist das unzumutbar?

    Fakt ist: In Essen hat mittlerweile gefühlt jeder zweite Hansel einen "Presseausweis" und sei es nur, weil er 2x im Jahr für irgendeine halbgare Website einen Fünfzeiler abliefert. Für einen Verlag (insbesondere Kleinverlag) ist es da schon schwer, die Abstauber von den Gutmeinern zu unterscheiden. Und angesichts der immer breiter werdenden Schar an internationalen Verlegern, kann es durchaus sein, dass der eine oder andere mit den Zentralorganen der hiesigen Spieleszene noch nicht so viel anfangen kann.

    Wie gesagt: schwer zu beurteilen, wenn man nicht dabei war. Ich für meinen Teil habe schon recht dreistes Verhalten von "Rezensenten" gegenüber Spielerverlegern beobachten können und kann daher durchaus verstehen, wenn der eine oder andere da sehr zurückhaltend reagiert, wenn jemand eine Box mitnehmen will. Wie immer gilt: der Ton macht die Musik. Solche Sachen allerdings gleich in irgendwelchen Foren breitzutreten … naja … zeigt nur den im Internetz üblichen Geltungsdrang.

  2. Hallo Gerald,
    wir hatten in den vergangenen Jahren diverse Male Spiele von neuen Kleinverlagen in den Top Ten (Twelve). Auch von solchen, die wir nicht im Rundschreiben hatten, das ich einige Wochen vor der Messe rausschicke – nicht von allen liegen uns Mailadressen vor (mein Verteiler enthält über 200 Adressen). Unser Vorgehen ist immer dasselbe. Eine(r) von uns geht hin, informiert den Verlag und bittet um ein Exemplar. Kennt dieser die Scoutaktion noch nicht, erklärt der(die)jenige unsere Aktion. Ist sich der Verlag nicht sicher, bieten wir an, dass er ein Exemplar seines Spiels selbst in die Hand nimmt, mit zu unserem Stand kommt, sich die Aktion und das Regal ansieht und dann entscheidet, ob wir das Spiel tatsächlich erhalten. Die Spiele aus dem Regal verwenden wir nach der Messe als Rezensionsexemplare, sprich für die Berichterstattung.
    Alles Gute von
    Kathrin.

  3. Ich glaube, die Empörung bei unknowns.de und im spielbox-Forum ist dadurch entstanden und hat sich hochgeschaukelt, dass einige Leser meinten, dass ihnen Informationen über den Detailablauf der Scout-Aktion vorenthalten worden sind, die dort das erste Mal dann in der "Öffentlichkeit des Internets" auftauchten. Zeitgleich wurde abgeleitet, eine Art Anrecht auf diese Informationen zu haben, weil man ja als einzelner Scout erst überhaupt die Grundlage der Scout-Aktion zu schaffen meint.

    Die von vielen Vielspielern hochgelobte Scout-Aktion – schliesslich machte man da ja selber mit – wirkte auf einmal seltsam intransparent mit einem Hauch von Geschmäckle. Plötzlich stand die Frage im Raum, ob die veröffentlichten Top X Listen wirklich vollständig sind und die Stimmabgaben komplett wiederspiegeln. Oder eben, ob die Fairplay-Macher gezielt Spiele aus der Wertung nehmen, weil Rezensions-Regal-Exemplare verweigert werden? Wer weiss, was der liebe Vielspieler da alles an tollen Geheimtipps seiner Scout-Kollegen verpasst hat in der Vergangenheit, nur weil sich Verlage und dann auch die Fairplay quer stellt und Spiele aus der Wertung nimmt? Fertig war der Skandal!

    Deshalb von mir nachgefragt: Wenn Euch ein Verlag kein Spiel zur Verfügung stellen will oder kann, wird es dann trotzdem in der aktuell ausgehängten Top X Liste vor Ort auf der Messe aufgelistet, wenn es einen Top X Platz erreicht? Kann sich also die Top X Liste vor Ort von den ausgestellten Top X Regalspielen unterscheiden und ist das überhaupt schon mal in den letzten Jahren vorgekommen oder alles nur theoretisches Palaver?

    Euch derweil entspannte Restfeiertage

    Cu / Ralf

  4. Hallo Ralf,

    vielen Dank für deinen Kommentar.

    Du fragst nach Verlagen, die uns "kein Spiel zur Verfügung stellen wollen oder können" (Anführungszeichen wegen Zitats aus deinem Kommentar, das ich durch den Plural leicht abgeändert habe).

    Die Frage nach zweiterem ist einfach zu beantworten: Wir sind bisher mit allen Verlagen, die uns aus welchem Grund auch immer kein Exemplar geben konnten, zu einer Lösung gekommen. Etwa, indem wir während der Messe von einem Demo-Exemplar den Deckel erhalten und ins Regal gestellt haben, und dann nach der Messe uns der Verlag ein Spiel zuschickte. In allen Fällen haben wir zusammen gesprochen, gemeinsam eine Lösung gesucht und bisher immer gefunden.

    Schwieriger ist es mit dem "wollen". Das ist uns dieses Jahr das erste Mal passiert (wurde das aus unseren bisherigen Äußerungen nicht genügend klar?). Was wäre passiert, wenn wir den Regalplatz leer gelassen hätten? Ganz einfach: Wir wären alle paar Minuten danach gefragt worden. Wer das nicht glauben will, ist herzlich eingeladen, nächstes Jahr mal eine Zeitlang bei uns am Stand mitzuarbeiten. Und was hätte die ehrliche Antwort wohl für Reaktionen hervorgerufen?!

    Alles Gute von
    Kathrin.

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