Niemand hat die Absicht zu Spoilern. Niemand.
Dezember 1961: Es regnet, 41°F, CIA Hauptquartier in Washington, mitten im Kalten Krieg. Agent Cooper beginnt mit der Einsatzbesprechung per Video. Als Medizinerinnen zu Agentinnen ausgebildet erhalten wir gleich zwei Aufgaben: Sucht den verschwundenen Agent Sabik und findet Informationen über ein geheimnisvolles Project MEDUSA. Wir erhalten wenige weitere Informationen und sollen gleich loslegen.
Dezember 2020: Es regnet, 11°C, Dorf am Niederrhein, Spielekeller. Meine Mitspielerin und ich arbeiten uns bei Tee und Keksen durch die noch sehr übersichtliche und jungfräuliche Spielanleitung, die zum Bekleben mit Regelstickern auffordert. Es lohnt sich trotz Erfahrung mit PANDEMIC LEGACY SEASON 1 und 2 diese Regel wirklich aufmerksam zu lesen und sich ggf. Notizen zu machen. Wir missachteten unfreiwillig eine der Regeln und erschwerten uns so etwa die Hälfte aller Partien des zwölf Monate dauernden Spiels.
Zur Verinnerlichung der Spielregeln ist der Prolog gedacht, der im Dezember 1961 spielt, keine Konsequenzen hat und beliebig oft wiederholt werden darf. Die Grundregeln bleiben überwiegend gleich. So haben wir abwechselnd vier Aktionen, die meist zur Bewegung der eigenen Spielfigur oder anderer Handlungen eingesetzt werden.
Allerhand Spielmaterial ist schon zu Beginn verfügbar, einiges versteckt sich aber noch in Dossiers und Schließfächern. Bislang vermisst niemand die Seuchen-Würfel, die uns in den Vorgängerversionen viele Nerven gekostet haben. Doch da: Ein kleines Beutelchen mit roten sowjetischen Spionen macht auf sich aufmerksam. Die Hälfte dieser werden zu Beginn, anstelle der bekannten Virus-Würfel, auf dem Spielplan nach dem altbewährten Pandemic-System aufgestellt. Bei zahlenmäßiger Überpopulation gibt es jedoch keinen Ausbruch und in dem Sinne auch keine Vermehrung. Es kommt schlicht zu einem Vorfall in dieser Stadt, was zu einer verstärkten Überwachung führt. Neben den Spionen sind auch neun Einsatzteams in Form von Plastik-Bullis verfügbar. Statt Forschungszentren bauen wir in PANDEMIC LEGACY SEASON 0 Unterschlupfe. Unterschlüpfe? Nun ja, jedenfalls mehr als einen Unterschlupf. Auch aus Kunststoff und ebenso nett anzusehen.
Die beiliegenden Reisepässe sind ein echter Hingucker. Sie kommen einem Original äußerlich sehr nahe. Deren goldene Imprägnierung glitzert hingegen mehr als so manches Kleidungsstück beim Eurovision Song Contest. Abgebildet ist, in Anlehnung an das CIA Logo, ein Weißkopfseeadler, auf einer Weltkugel hockend mit Alphahelix-DNA-Heiligenschein. In dessen Mitte befindet sich eine Bio-Hazard-Ikonographie mit Explosionscharakter; alles Indizien dafür, dass sowjetische Spione wahrscheinlich nicht das Ende der Fahnenstange sind. Auf den Innenseiten der Pässe ist Platz für eine alliierte, eine neutrale und eine sowjetische Identität. Wir starten mit einer alliierten und dürfen gleich zu Beginn einen der vierundzwanzig Gesichts-Sticker aufkleben und mit Haaren, Bekleidung und allerhand Accessoires verzieren oder verunstalten. Zur weiteren Individualisierung unserer Charaktere wählen wir einen Beruf für sie aus. Mein Medizinkongress-Koordinator war ganz passabel. Natürlich darf auch ein eigens gewählter Name nicht fehlen. Wir starten mit Abby und Jeffrey. Jede Ähnlichkeit zu lebenden Personen und/oder solchen aus TV-Serien ist selbstredend rein zufällig.
Auf dem großen Spielplan befindet sich eine Weltkarte mit insgesamt 48 Städten bzw. Stadtteilen, denen entweder einer alliierte, eine neutrale oder eine sowjetische Zugehörigkeit anhaftet. Zudem ist die Karte in sechs Regionen unterteilt, die in etwa den Kontinenten entsprechen. Passend zur Kuba-Krise 1962, liegt Havanna geographisch zwar im weitgehend alliiert gegliederten Nordamerika, bekleidet sich aber mit Hammer und Sichel. Einige Städte stehen bereits unter sowjetischer Beobachtung und machen einen Unterschlupf unentbehrlich, falls die eigene Tarnung nicht auffliegen soll.
Im Vergleich zu den anderen PANDEMIC LEGACY Versionen fehlen einige Städtenamen, andere sind dazugekommen oder wurden historisch wie thematisch angepasst. So war 1962 St. Petersburg noch als Leningrad bekannt, und nach Baubeginn der Berliner Mauer im Oktober 1961 finden wir in diesem Spiel statt Berlin nur noch Ost-Berlin vor. Neben diesen Veränderungen machen sich während der Partien mehrere „fehlende“ Querverbindungen bemerkbar. Der Weg von Lagos nach Algier ist durch die Sahara blockiert, zwischen Delhi und No-vosibirsk stehen die asiatischen Hochgebirge im Weg. So müssen teils absurde Umwege in Kauf genommen werden, wo in PANDEMIC LEGACY SEASON 2 noch Häfen die Reisezeit verkürzten.
Nach einem eisblauen (SEASON 1) und einem hellblau-gelbem Plan (SEASON 2) ist diese Karte nun in passendem grau bzw. grau-blau gehalten. Farblich heben sich Accessoires, Spielanweisungen, Städte dezent wie zweckdienlich ab. Die Karte vermittelt den Eindruck, Agent Cooper habe tatsächlich soeben einen Plan aus CIA-Beständen aus seiner Schreibtischschublade gekramt. Abgenutzte Falzecken paaren sich mit einem Kugelschreiber, Streichhölzern, Metallpins, Büro- und Vielzweckklammern und dem obligatorischen Kaffeefleck.
Wie üblich, geht es auch in PANDEMIC LEGACY SEASON 0 darum, Aufgaben zu erfüllen bevor sich der Stapel mit Stadtkarten vollständig geleert hat, zu viele Spione auf dem Spielplan stehen, usw. Die Aufgaben haben auch hier eine abwechslungsreiche Struktur und können teils auf unterschiedliche Art und Weise erfüllt werden. Neu ist zudem, dass nicht alle Aufgaben vollständig erfüllt werden müssen. Tipp: Die CIA wird darüber nicht sonderlich erfreut sein.
Wir suchen zunächst den verschwundenen und möglicherweise umgedrehten Agent Sabik. Die Reise geht in die tiefste Sowjetunion. Vor Ort benötigen wir Einsatzteams, die durch Abgabe von Stadtkarten der gleichen Zugehörigkeit zusammengestellt werden.
Gut zusammengestellt ist am Spielende jedenfalls der Papierkorb. Zahlreiche Pappmarker, Schachteln, Etikettenreste und Dossiers wollen entsorgt werden und können einen 20l-Eimer bis oben hin füllen – zusätzlich zum Kunststoff-Verpackungsmüll. Aus ästhetischen, wie sentimentalen Gründen verbleibt die große Spielschachtel jedoch im Regal bei ihren Schwestern SEASON 1 und 2.
Auch bei diesem Spiel der PANDEMIC-Reihe macht sich der Vorteil durch geringerer Spielerinnenanzahl bemerkbar. Zu Spielbeginn werden jeweils vier Karten verteilt, sodass schon in den ersten Runden bei glücklicher Verteilung der Karten wertvolle Einsatzteams zusammengetauscht werden können. Diese helfen nicht nur bei der Erfüllung von Aufgaben, sondern entfernen auch gegnerische Spione. Das stellten wir erst im Juli mit Blick in die Spielanleitung fest. Upsi, naja… Nach mehr oder weniger gelungenen Kampagnen der Vorgängerversionen in Viererbesetzung, mussten wir zu zweit in SEASON 0 tatsächlich keinen Monat wiederholen.
Als ‘95er Kind habe ich keinen Kalten Krieg, keine Mauer, keine große Angst vor einem Atom-Angriff miterleben müssen. Daher war es auch für mich, der die Zeit der frühen 60er Jahre maximal aus dem Geschichtsunterricht und der eigenen Recherche kennt, eine aufregende, anschauliche und spannende Reise in die jüngere Vergangenheit.
Natürlich kann ein Spiel, das zu dieser Zeit spielt, nicht die gesamte Bandbreite der exakten historischen Ereignisse darstellen. Daher rücken die realen Geschehnisse auch eher in den Hintergrund, sodass die Entscheidungen der Spielerinnen zu einer individuellen Geschichte führen, die dem Setting gerecht wird.
Lasse Goldschmidt aka Jeffrey
Rob Daviau und Matt Leacock: PANDEMIC LEGACY: SEASON 0 für 2 – 4 Personen mit Illustration von Dan Gerlach, Monica Helland, Atha Kanaani, Samuel Shimota bei Asmodee 2020, Spieldauer 45 – 60 Minuten