Kurz nach Erscheinen der „Viticulture Essential Edition“ im Jahr 2016 hat Arne für die Fairplay 118 einen Blick auf das Spiel geworfen. Dies zu einer Zeit, in der ich meine Brettspielleidenschaft gerade erst wiederentdeckte. Fünf Jahre später habe ich nun zusammen mit meinem Podcastpartner bei doppelbrett.com mein Augenmerk auf die Ausgabe geworfen. Leider ohne Arnes Artikel vorher gekannt zu haben. Aber umso spannender für mich jetzt die Frage: Was war Arnes Meinung zum Spiel? Und vor allem: Ist der Blickwinkel aufs Spiel heute ein anderer oder ist das Spiel gut gereift in den letzten 5 Jahren? (sp)
Das Spiel zu einem Glas Wein – nur nicht zu mehreren
Man bekommt schon Lust, ein gutes Tröpfchen zu öffnen, wenn man VITICULTURE vor sich hat. Nicht nur, weil das Spiel liebevoll und sehr hochwertig gestaltet und ausgestattet ist. Man wird einfach ins Thema reingezogen. Vor dem geistigen Auge sieht man schon die Weinberge, riecht den Most in der Kelter, spürt die Kühle des Weinkellers. Und man meint, einen guten Tropfen auf der Zunge zu schmecken. Schon beim Schreiben möchte ich mir gerne ein Gläschen aufmachen, wenn ich nur nicht in der Kur säße – dazu später mehr – und die Hausordnung Alkohol auf dem Zimmer verbietet.
Doch wenn man der guten Tropfen zu viel intus hat, dann ist VITICULTURE nicht mehr zu meistern. Dafür ist es zu komplex, die Mechanismen sind zu verzahnt. Kein Wunder: Dieses Spiel erschien bei Feuerland in der „Uwe Rosenberg Collection“.
VITICULTURE passt gut zur Riege vieler Uwe Rosenberg-Spiele: Komplexe Produktionsketten sind aufzubauen und zu managen. In diesem Fall müssen erst Weinreben angepflanzt werden, die dann im Herbst – aus spieltechnischen Gründen im Winter – geerntet werden. Aus den Trauben wird anschließend Wein gekeltert, der im letzten Schritt über Aufträge ver-siegpunkt-et wird. Natürlich ist diese Kette nicht eindimensional: Es gibt verschiedene Weiß- und Rotweinsorten, die angepflanzt werden können und die zum Teil Gebäude benötigen, damit sie wachsen. Jede Traubensorte hat ihre eigene Wertigkeit. Auf einen Weinberg können verschiedene Trauben bis zu einem Gesamtwert kombiniert werden. Wird geerntet, wirft ein gemischter Weinberg aber nur je eine Weiß- und eine Rotweintraube in die Kelter ab. Wuchsen dort mehrere verschiedene Trauben der gleichen Farbe, so werden deren Werte zu einem Gesamtwert addiert und in der Kelter markiert. Insgesamt können in der Kelter Moste verschiedener Werte und Farben lagern, jeweils markiert durch ein hübsches Glassteinchen.
Aus dem Most wird Wein gekeltert und wandert in den Keller. Bei reinem Weiß- und Rotwein hat dieser den gleichen Wert wie der Most. Allerdings muss man schon früh in den Ausbau des Weinkellers investieren, denn der Ausgangskeller kann nur niedrigwertige Weine lagern. Mit dem entsprechenden Kellerausbau kann man ins Mischgeschäft gehen: Aus einer Portion Rot- und einer Portion Weißwein wird eine Portion Rosé, mit dem addierten Wert der beiden Ausgangstrauben. Bei Sekt kombiniert man zwei Rotwein- mit einer Weißweintraube.
Bei der Weinherstellung gibt es ein ganz besonderes Phänomen: Lagern Trauben oder Weine über das Jahresende in Kelter bzw. im Keller, dann reifen sie, und ihr Wert steigt um Eins. Dieses Phänomen kenne ich zwar von fertig ausgebauten Weinen, aber bei Trauben war mir dies neu. Egal, manchmal geht der Mechanismus doch über das Thema.
Wichtig in VITICULTURE ist ein Stichwort, das gerade fiel: das „Jahr“. So wird eine Spielrunde bezeichnet; das Jahresende markiert den Zeitpunkt, an dem geschaut wird, ob das Spiel endet: Bei 20 Siegpunkten ist es soweit. Ein Jahr ist in Jahreszeiten unterteilt. Im Frühjahr bestimmen die Spieler die Zugreihenfolge. Wer auf einen guten Startplatz verzichtet, hat die Wahl immer wertvollerer Boni, bis hin zu einem Zusatzarbeiter. Wer möglichst früh spielen will, geht unter Umständen beim Bonus leer aus.
Der Sommer ist die erste der zwei Hauptaktionsphasen, in denen die Spieler ihre Arbeiter einsetzen. Leicht vergessen wird, dass der Arbeiterstamm für beide Hauptaktionsphasen reichen muss. Wer seine Leute bereits im Sommer verausgabt, hat im Winter keine arbeitende Bevölkerung mehr. Im Sommer werden Rebenkarten gezogen und Reben gepflanzt, es werden Gebäude gebaut und Weintouren abgehalten. Und es können „Sommerbesucher“-Karten gespielt werden; dies sind Aktionskarten, die einen gehörigen Einfluss auf das Spiel haben können.
Im Herbst zieht man eine Sommer- oder eine Winterbesucherkarte, um schließlich im Winter den Rest seiner Arbeiter einzusetzen. Winterarbeit ist Weinlese, Weinerzeugung und -verkauf. Außerdem zieht man hier neue Aufträge, stellt Arbeiter für das neue Jahr an und löst schließlich die Aktionen der Winterbesucherkarten aus.
Je nach Spielerzahl gibt es ein, zwei oder drei Plätze pro Aktionsfeld. Ab zwei Plätzen – ab drei Spielern – ist eines mit einem Bonus ausgezeichnet; wer es zuerst nutzt, kann Rabatte auf Preise, ein Siegpunkte oder auch eine weitere der auszulösenden Aktionen bekommen. Was aber tun, wenn die Aktionsfelder bereits alle mit Arbeitern besetzt sind? Dafür hat hat jeder Spieler einen großen Arbeiter, der in solchen Fällen ein besetztes Einsetzfelder ignoriert.
Die Besucherkarten bringen besondere Variation ins Spiel, gleichzeitig aber auch ein Zufallselement, welches man aus ähnlich angelegten Spielen aus Uwe Rosenbergs Hand nicht so stark kennt: mit Fortuna schlägt der Zufall durch das Ziehen der Karten deutlich zu. Dies kann einen stören, die Karten geben VITICULTURE aber auch ein erheblich höheres Maß an Variabilität. Ohne die Kartenelemente wäre dieser Weinbau, trotz seiner verschiedenen Schritte, zu gradlinig. Mit diesem Kartenzufall, der auch bei den Reben- und vor allem bei den Auftragskarten zuschlägt, wird das Spiel taktischer. Man weiß zu Beginn noch nicht, welcher Spielansatz durch noch zu ziehende Besucher angeraten wäre. Auch weiß man nicht, welche Weinsorten in den zukünftigen Aufträgen verlangt werden – und dies ist das größte Manko an VITICULTURE: Zieht man zu Beginn nur Aufträge, die besonders teure Weine, Rosé oder gar Sekt verlangen, muss man lange Aufbauarbeit leisten, um spät diese sehr siegpunktträchtigen Aufträge zu erfüllen. Dies hat einen weiteren Nachteil: Erfüllte Aufträge bescheren ein Dauereinkommen, das maximal fünf Lira betragen kann. Wer länger auf Finanzspritzen warten muss, gerät beim Kauf von Gebäuden und neuen Arbeitern ins Hintertreffen.
Bei aller Variabilität, die die Besucherkarten bringen, bin ich zwiegespalten. Ich habe Partien erlebt, bei denen die Zufallsschere zu stark auseinanderging und einzelne Spieler sehr lange Zeit auf der Siegpunktleiste hinterhertrotteten. Wenn die führenden Spieler dann Besucherkarten spielen können, die Siegpunkte bringen und so einen weiteren Spurt in Richtung des 20-Siegpunkte-Ziels hinlegen, kommen wertvolle Auftragskarten manchmal zu spät.
Dennoch macht VITICULTURE viel Freude, bringt es doch die Weinbau-Atmosphäre in einem anspruchsvollen, aber nicht überkomplexen Spiel unter. Die Regel ist gut geschrieben, dem Anschein nach nicht im weinseligen Zustand. Und das Material ist hübsch und funktional. Wer Spiele mit Produktionsketten mag, dem sei zu diesem guten Tropfen geraten. Und wer dann nicht genug bekommt, der kann sich die kleine IN VINO VERITAS-Erweiterung anschaffen, die weitere Besucherkarten enthält.
Besonders froh bin ich aktuell über die Solovariante von VITICULTURE, genannt Automa. Denn ich meiner Kur finde ich weit und breit niemanden, mit dem ich anspruchsvollere Spiele spielen kann. So brauche ich nur einen ausreichend großen Tisch, um mein Spielbrett und den Hauptplan auszubreiten. Die Solovariante basiert auf dem Zweipersonenspiel. Der Automa-Spieler wird durch Karten repräsentiert: Zu Beginn jedes Sommers und jedes Winters wird eine Karte gezogen, auf der Einsetzfelder abgebildet sind. Man setzt dort Automa-Arbeiter ein, die wie gewohnt Einsetzfelder blockieren. Der menschliche Spieler erhält, entgegen der normalen Zweipersonenvariante, aber die Möglichkeit, einzelne Bonusaktionen auf den Einsetzfeldern zu nutzen. Dazu bekommt er pro Runde quasi einen Gutschein, die er sich auch für spätere Runden aufheben kann. Und nun ran und in genau sieben Runden mehr als 20 Siegpunkte machen. Wer gleich eine Serie spielen will, dem werden noch Kampagnenregeln mitgegeben.
Arne Claussen
Jamey Stegmaier und Alan Stone: VITICULTURE ESSENTIAL EDITION für 1 – 6 Personen mit Illustration von Jacqui Davis, David Montgomery, Beth Sobel bei Feuerland Spiele 2016, Spieldauer 45 – 90 Minuten