Auf und Abgedreht
Die Geschichte des SCHACH ist zu einem Gutteil die seiner Figuren. Seit Anbeginn sind durch geänderte Schrittmuster immer wieder neue dazu gekommen. Dies hat mit der 1924 abge-schlossenen Etablierung des heutigen Stammpersonals keinesfalls seinen Abschluss gefunden. Offenbar sind der Phantasie bei Caissas Verehrern keine Grenzen gesetzt.
Schachproblemisten aus aller Welt haben sich im Laufe der letzten hundert Jahre mit zahllosen Kreationen ihr eigenes Reich erschaffen, zu dem Besucher dank Anthony Dickins’ „Märchenschach“ (Hesse & Becker, 1986) wunderbar leicht Zutritt finden. Wer noch tiefer einsteigen möchte, greife zu „Meta-Chess – Adventures Beyond The Bounds of Chess“ (Kronschild Publishing, 1997), worin John William Brown mit geradezu wissenschaftlicher Akribie eine Notationsmethode zur einheitlichen Beschreibung aller denkbaren Zugweisen nebst einem System der Namensgebung entwickelt hat (FP 43, 65).
Um vor diesem Hintergrund noch etwas Originelles beisteuern zu können, muss man jenseits von Schrittmustern, Schlagtechniken oder Zielvorgaben ansetzen. Wie dies in neuerer Zeit etwa Jozsef Dorsonczky mit einer völligen Umkehr der Abläufe in SIX MaKING (FP 107, 58) oder Felix Christiaan Albers durch Einladung zum Paartanz in PACO ŜAKO (FP 123, 52) vorgemacht haben.
Bietet TWISTING CHESS etwas neues?
Wenngleich nicht derart grundstürzend anders, so doch zumindest von belebender Frische ist TWISTING CHESS, das mit der Art des Einsatzes zweier neuer Figuren Profil entwickelt. Diese nehmen zwar brav auf der entsprechend verlängerten Grundlinie am Rand neben den Türmen hinter einem zusätzlichen Bauern Aufstellung, können aber erst ins Geschehen eingreifen, nachdem sie aktiviert worden sind. Dafür ist für jeden Voraussetzung, durch Schlagen gegnerischer Figuren zunächst mindestens fünf Punkte eingefahren zu haben.
Während Dame und Turm mit neun bzw. fünf Punkten schon für sich allein als Energiespender ausreichen, schlagen Springer und Läufer lediglich mit drei und Bauern sogar bloß mit einem Punkt zu Buche, was den vertrauten Tauschwerten entspricht. Dabei hätte es angesichts eines um 16 Felder und damit immerhin 25 % vergrößerten Geländes eigentlich nahegelegen, den Springer aufgrund seiner geringen Reichweite um einen Punkt abzuwerten.
Die sieben Punkte, die für die beiden Neulinge selbst in Ansatz kommen, unterstreichen einerseits deren beachtliche Schlagkraft. Andererseits bleiben sie damit deutlich hinter der Dame zurück, woran sich zeigt, dass sie keinesfalls als neue beherrschende Kräfte angelegt sind. Und dies aus gutem Grund, ist einer von ihnen doch überhaupt nur begrenzte Zeit einsatzfähig, und entpuppt sich sein Partner als ziemlich unsicherer Kantonist.
Was können die zusätzlichen Figuren?
Der für das Spiel namengebende Twister tritt seinen Dienst mit eingebautem Verfallsdatum an. Mit jedem Zug verbraucht er eines seiner gerade einmal drei Leben. Danach segnet er das Zeitliche und füllt das Punktekonto des Gegners ohne Aussicht darauf, später vielleicht durch eine Bauernumwandlung noch einmal auf den Plan gerufen zu werden. Eine Ausnahme, die auch für den Fall gelten soll, dass er vom Gegner geschlagen worden ist.
Dafür ist sein Auftritt umso eindrucksvoller. Der Twister zieht nämlich wie eine Dame und wütet dabei wie ein Berserker, der zwischen Freund und Feind nicht unterscheidet und alles niederstreckt, was ihm in die Quere kommt. Darüber, wie weit ihn sein Rausch tragen kann, entscheidet indessen ein achtseitiger Würfel, sodass maximal acht Opfer zu beklagen respektive zu bejubeln sind. Offenbar genetisch eingeschriebenen Respekt erweist er allein den beiden Königen, weshalb er auch unter deren Ägide stehendes Gefolge verschont und vor einem ihm zu nahekommenden gegnerischen König sogar zurückweicht, selbst wenn ihn dies sein womöglich letztes Leben kosten sollte.
Aufstellungsbedingt ist es einem Twister mit einer achtel Wahrscheinlichkeit theoretisch möglich, sein gegnerisches Pendant sogleich mit dem ersten Zug zu eliminieren. Abgesehen davon, dass dieses durch den benachbarten Turm gesichert sein wird, wirkt ohnehin disziplinierend, dass den Angreifer auch ein Fehlversuch eines seiner wenigen Leben kostet. Sinnvoller ist es, das Zentrum ins Visier zu nehmen und von dort mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit die gegnerische Stellung zu verwüsten.
Auch der Mimo, der zweite Neuling oder besser: Wunderling, verfügt über eine ungewöhnliche Begabung. Entsprechend seiner Physiognomie eines Chamäleons vermag er für den gerade anstehenden Zug das Schrittmuster sämtlicher anderer Gefolgsleute seines Königs zu imitieren. Nur eben nicht auch noch aus freiem Entschluss. Vielmehr will stattdessen mithilfe eines zehnseitigen Würfels das sog. Transformationsrad befragt werden, was den Mimo zu einem launischen, schwer auszurechnenden Gesellen macht.
Dass die Chancen für den Mimo fifty-fifty stehen, bloß als einfacher Bauer agieren zu dürfen, vermag kaum zu beruhigen. Kann er dann nämlich gar nicht ziehen, geht es auf dem Rad so lange im Uhrzeigersinn ein Segment weiter, bis er den Rang eines bewegungsfähigen Offiziers erreicht hat.
Ein Mimo kann – und muss dann wohl auch – als Bauer wie üblich bei Erreichen der gegnerischen Grundlinie dauerhaft in einen Offizier umgewandelt werden. Abweichend von den Regeln des orthodoxen SCHACH wird eine solche Umwandlung hier generell auf bereits geschlagene Figuren beschränkt, kann eine zweite Dame also nicht auf den Plan treten.
Gemäß dem Transformationsrad kann der Mimo sogar kurz in die Rolle eines Twisters schlüpfen und damit wie ein Berserker agieren. Da sich die Anleitung dazu nicht näher auslässt, ist davon auszugehen, dass sich dies nicht auf seine Lebenserwartung auswirkt, und zwar nicht einmal dann, wenn es dazu in drei unmittelbar aufeinander folgenden Zügen kommen sollte. Es bleibt unbenommen, für diesen immerhin mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Prozent durchaus denkbaren Fall etwas anderes zu vereinbaren.
Den Angreifer kann der Marschbefehl an seinen Mimo bei einem unbrauchbaren Wurf nicht nur ein Tempo kosten, sondern im Falle eines an sich gebotenen Rückzugs sogar dessen Leben. Das darin liegende Risiko will deshalb gegen die mit einem Einsatz verbundenen Chancen jedes Mal aufs Neue situationsbedingt sorgfältig abgewogen sein.
Worin liegt der Reiz von TWISTING CHESS?
In genau diesem auch für den Twister geltenden Moment liegt der Reiz von TWISTING CHESS. Wer es dagegen nicht verträgt, sein Schicksal im Rahmen eines abstrakten Denk-spiels auch nur bisweilen in Fortunas Hände legen zu müssen, und auch nicht bereit ist, seine Abneigung zumindest versuchsweise einmal zu überwinden, sollte deshalb besser die Finger davon lassen.
Aus finanziellen Gründen dürfte dies ohnehin nicht sonderlich schwerfallen. War nämlich der Preis schon in der Kickstarter-Kampagne ziemlich happig, dürfte er mit derzeit vier „Hunnis“ plus Versandkosten aus den Niederlanden selbst für hartgesottene Fans von Schachvarianten weit jenseits der Schmerzgrenze liegen. Dabei sind die fein modellierten, matt und poliert auf antik getrimmten Zinnfiguren nebst einem dreiteiligen Acrylbrett schon ein kleines Fest fürs Auge.
Wie geht es für TWISTING CHESS weiter?
Über den Stand der Pläne, im Laufe des Jahres eine mit einem Zehntel des jetzigen Preises für jedermann erschwingliche Ausgabe herauszubringen, hat sich aufgrund völliger Funkstille auf Autorenseite leider nichts mehr in Erfahrung bringen lassen. Vielleicht bekommen diese Pläne ja neuen Aufwind, wenn hoffentlich im nächsten Jahr nach Überwindung der Corona-Krise die SPIEL in Essen wieder analog stattfinden kann.
L.U. Dikus
Eduardo Pérez González & Ramón Jahn: Twisting Chess für 2 Personen mit Illustrationen der Autoren bei De Tinnen Roos 2019, Spieldauer 60 Minuten