In einer Wasserwelt
Wir schreiben das Jahr 1954. Etwa acht Jahre sind vergangen, seit die Amerikaner das erste Mal nach Kriegsende wieder am Zünder rumfummelten. Mit der Operation Crossroads begann damals der amerikanische Forschungseifer rund um die Zerstörungskraft ihrer Nuklearbomben, der in der Operation Castle seinen denkwürdigen Höhepunkt fand. Dieses Mal geht das eh schon zweifelhafte Zündeln gründlich daneben. Eine Fehleinschätzung der Sprengkraft sorgt für eine verheerende Überraschung, denn sie überstieg die Erwartungen um das zweieinhalb bis dreifache. Soweit zum historischen Hintergrund. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass all dieses Treiben humanitäre Katastrophen zur Folge hatte. Denn das zur traurigen Berühmtheit gelangte Bikini-Atoll war ehemals bewohnt. Die annähernd zweihundert Menschen der Inseln Bikini und Enyu mussten ihre Heimat verlassen und begaben sich auf eine Odyssee über lebensunwürdige Inseln. Später dann wieder zurück in die alte, verstrahlte Heimat, die schließlich nach etlichen krebsbedingten Todesfällen kurz darauf für immer verlassen wurde und noch immer als unbewohnbar gilt.
Das Autorenduo knöpft sich diese tragische Geschichte vor und baut sie zu einer globalen Katastrophe aus: Die Detonation übersteigt die Erwartungen sogar um das hundertausendfache. Und dennoch existiert wie durch ein Wunder nicht nur der – nun noch erheblich blauere – Planet weiter, sondern auch die arg dezimierte Menschheit. FLOTILLA stellt nicht das erste Spiel dar, das angesichts seines wahren Hintergrundes kritisch betrachtet werden sollte.
Doch zurück zur Geschichte dieses Spiels. Die sagenhafte Sprengkraft sorgt nun also dafür, dass weite Teile unseres Planten geflutet sind. Eine globale Allianz hat beschlossen, eine riesige schwimmende Festung als neues Zuhause für die Überlebenden zu errichten, die sogenannte Flotilla.
Wir alle starten mit einem Schiff und einer sechsköpfigen Crew im Zentrum, am Rande einer noch recht kleinen Meeressiedlung. Um uns erstrahlt der Ozean in friedlich unscheinbarem Blau. Unser aller Ziel ist es, ausgehend von dieser Startsiedlung im eigenen Abschnitt des Meeres möglichst erfolgreich Punkte zu sammeln. So können wir weiter hinaus schippern und unentdeckte Meeresgebiete erkunden. Wir tauchen und bergen wichtige Ressourcen und Artefakte, retten bisweilen noch Überlebende und kassieren dafür schicke Boni. Frei von Risiken verläuft das nicht, denn viele Ecken sind noch immer verstrahlt. Doch die sind es wert, denn je größer unser Erkundungsradius wird, desto besser stehen die Aussichten zahlreiche Ressourcen, aber vor allem begehrte Artefakte zu entdecken. Der Schwerpunkt unserer Mühen liegt in der ersten Phase des Spiels vor allem im Bauen von Schiffen und dem Erkunden und Ausbeuten des Meeres. Geld ist noch knapp, Ressourcen jedoch genügend vorhanden. Später in der zweiten Phase, können wir gekaufte oder übrig gebliebene Ressourcen zum Bau an der Flotilla einsetzen und somit reichlich Punkte kassieren. Während des gesamten Spiels werden wir obendrein Handel betreiben, neue Crewmitglieder anheuern und versuchen, uns bei den Gilden lieb Kind zu machen, die uns mit Boni versorgen und Zugriff auf stärkere Crewmitglieder verschaffen. Allerhand Optionen, aus denen wir frei wählen dürfen. Bis hierher scheint FLOTILLA also vertraute Hausmannskost zu sein. Irgendwelche Ressourcen von irgendwoher beschaffen, mittels irgendwelcher Hilfsmittel irgendwie veredeln und irgendetwas damit bauen. Obendrauf noch ein wenig Deckbau. Alles ein alter Seemannshut? Ja und nein!
Unsere Aktionen und die Bewegung unserer Schiffe steuern wir über das Ausspielen von Crewkarten, die unterschiedliche Aktionen ermöglichen. Will ich den Ozean erkunden, spiele ich eine beliebige Karte der Gründergilde, ziehe eine auf ihr angegebene Anzahl Plättchen aus einem Beutel, passe im ungünstigen Falle meinen Toxizitätstracker um den auf den Teilen vermerkten Wert an (das kostet bei der Endabrechnung Punkte) und lege ein paar von ihnen an meinen Abschnitt des Ozeans. Eventuell winkt noch ein Platzierungsbonus in Form eines Artefaktes. Beschließe ich später in den Abschnitten, auf denen sich meine Schiffe befinden zu tauchen, so spiele ich erneut eine Karte (eine der Forschergilde), werfe eine Handvoll Würfel (abhängig von Anzahl und Standort meiner Schiffe) und erhalte Ressourcen, womöglich Boni und werde schlimmstenfalls gefährlicher Strahlung ausgesetzt. Handeln als weitere Option bedeutet nichts weiter, als mit Unterstützung der Gilde der Händler Ressourcen am Markt zu verkaufen, den Marktpreis anzupassen und mit dem Geld neue Schiffe oder andere Ressourcen zu erwerben sowie Außenposten zu errichten, die es mir erlauben eine von drei möglichen Zielkarten für Siegpunkte zu werten.
Doch auch wenn FLOTILLA das Rad nicht gänzlich neu erfindet, hat es eine hübsche Portion Unverbrauchtes an Bord. Denn das Spiel bietet wie bereits erwähnt zwei unterschiedliche Phasen, die eben skizzierte Sinkside und dazu die Skyside.
Wann immer ich die Karte mit der Kapitänin ins Spiel bringe, sammelt sie alle meine bisher gespielten Karten wieder ein und erlaubt es mir von der Sinkside auf die Skyside zu wechseln. Hier ändert sich so Einiges. Meine Schiffe benötige ich nun nicht mehr und verkaufe sie, je nach Zeitpunkt meines Wechsels mehr oder weniger lukrativ. Fortan werde ich nicht weiter den Ozean erkunden und nicht mehr tauchen. Auf der Skyside dreht es sich vor allem um den Bau neuer Stadtbezirke. Zu diesem Zwecke räume ich beim Wechseln meine Ozeanteile ein, drehe sie um und lege sie in meinen Vorrat. Diese stellen nun den Grundstock der Bezirke dar, auf den ich beim Bauen zugreifen kann. Auch mein Tableau drehe ich um, die Werft fehlt und alles erscheint heller. Schließlich wendet sich auch mein Blatt. Die Spielkarten zeigen auf ihrer Rückseite ihr sonniges Pendant mit veränderten oder gar neuen Aktionen. Die Karten der Gründergilde ermöglichen mir nun das Bauen, was zu unmittelbarem Punktgewinn führt. Die Gilde der Forscher verschafft mir jetzt Geld und technologische Durchbrüche, die den Siegpunktertrag potenziell verbessern. Ich errichte auch weiter meine Außenposten, werte jedoch andere Zielplättchen. Ebenso nehme ich weiter Einfluss auf die Gilden und erhalte mitunter neue Karten, nutze nun aber deren Sonnenseite. Auf der Skyside läuft also vieles anders, und das meiste zielt scheinbar direkt auf Punktgewinne ab. Sinkside und Skyside beeinflussen sich bei all dem wechselseitig. Der Markt wird beispielsweise oftmals gegenläufig angepasst, oder beim Tauchen gefundene Artefakte haben einen Einfluss auf den Ertrag während des Forschens auf der Skyside.
Diese grundlegende Idee erzeugt, trotz des vorhandenen und vertrauten Einerlei, eindeutig ein ungewöhnlich neues Spielgefühl. Das Spiel will erstmal erobert werden, bevor es sich entfalten kann. So hat mir FLOTILLA nach der ersten, eher durchwachsenen Lernpartie mit jedem weiteren Mal besser gefallen. Mich fasziniert nicht nur der Wechsel der Seiten, sondern auch, dass die Frage nach dem besten Zeitpunkt dafür ein schwer zu lösendes Rätsel darstellt. Und so viel hängt bei dieser Entscheidung auch von den Mitspielerinnen ab, denn mit jedem Seitenwechsel ändert sich das Gleichgewicht und beeinflusst schließlich die Strategie der anderen. Meine bisherigen Erfahrungen reichen noch nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob es einen goldenen Weg gibt. Oder wie die Verteilung der Siegchancen vor dem Hintergrund aussieht, wann und ob ich überhaupt die Seiten gewechselt habe. Doch es sind zahlreiche Wege möglich, und die Chancen auf der Sinkside an Siegpunkte zu kommen sollten nicht unterschätzt werden.
FLOTILLA macht für mich vieles richtig, hat aber auch Schattenseiten. Zunächst ist die Spielzeit etwas zu lang. Es zieht sich noch zusätzlich, da die Aktionen an sich relativ gleichförmig ablaufen. Das Thema wurde für mich auf halber Strecke fallen gelassen, daher fehlt es ein wenig an Abwechslung. Warum kann ich beispielsweise nicht wählen, ob ich in besonders gefährlichen, aber lukrativeren Meeresgebieten tauche oder in solchen, die zwar weniger abwerfen, dafür aber sicherer sind? Im Spiel unterliegt das mehr oder weniger dem Zufall. Und warum kann ich beim Bauen nicht aus einer Handvoll verschiedener Gebäude wählen, die Vorteile oder Synergien bringen? Stattdessen beschränkt es sich im Wesentlichen auf das Sammeln von Siegpunkten. Auch der Deckbau entzieht sich meinem Einfluss; ich kann lediglich die jeweils oben liegende Karte einer der Gilden nehmen. Und schließlich hätten die Autoren dem Spiel einfach mehr erlebbares Thema spendieren können. Im Übrigen hätte dieses mühelos auch einer Wasserwelt nach dem Vorbild des gleichnamigen Films entspringen können: die Überflutung unseres Planeten als Ergebnis einer Ökokatastrophe. Wenn das nicht ein Thema für ein analoges Spiel ist! Wir Spieler brauchen schließlich nicht mehr als eine Lampe für unser Glück. Unterm Strich aber mag ich FLOTILLA, insbesondere aufgrund seiner ungewöhnlichen Mechanik und der ewigen Suche nach der besten Route zum Erfolg.
Matthias Busse
J.B. Howell und Michael Mihealsick: FLOTILLA für 3 – 5 Personen mit Illustration von Bartek Fedyczak bei Strohmann Games 2020, Spieldauer 90 – 150 Minuten