Fairplay 138 – Rezension: Die Rote Kathedrale

Die Rote Kathedrale

Die Baumeister des Zaren

Hui, da waren die Scouts von KOSMOS aber auf Zack! Haben sich ein Spiel gesichert, das letztes Jahr im Oktober bei Devir erschienen ist und schnell zahlreiche Fans gefunden hat. Nun gibt es dieses Kleinod auch mit deutscher Anleitung. Ein Kleinod ist DIE ROTE KATHEDRALE gleich in mehreren Hinsichten. Zum einen wegen der knapp gehaltenen Schachtelgröße. Im Gegensatz zu den üblen Luftnummern, ist hier jeder Kubikzentimeter mit Material belegt, und das bei etwa der Hälfte des bekannten Standardformates. Nur gut, dass die von Devir den Mut zur kleineren Schachtel hatten. Das findet hoffentlich Nachahmer.

Weil aber auch alles Zeugs in diese kleine Schachtel passen muss, wandeln Pappmünzen und Punktezähler hart an der Grenze zur Friemeligkeit. Aber egal, diese Kröte schlucke ich gerne, wenn dafür Ressourcen und mein Regalplatz geschont werden. Der Rest des Materials ist von ausreichender Größe in gewohnter KOSMOS-Qualität.

Und das Spiel selbst? Ist das auch ein Kleinod? Thematisch jedenfalls bewegen wir uns auf großem Terrain: Russland Mitte des 16. Jahrhunderts. In Moskau ordnet Zar Iwan IV. den Bau einer Kathedrale zu Ehren des Seligen Basilius an. Da wollen wir mitwerkeln, um am Ende den Sieg nach Ruhmpunkten einzufahren.

WILDES RUMRESERVIEREN VERBOTEN

Vor uns liegen die persönlichen Werkstatttableaus und der Hauptspielplan. Daneben, in Form von Karten, die Kathe‐ drale. Sie besteht aus mehreren Türmen und die wiederum aus mehreren Etagen samt der obligatorischen Zwiebelkuppel. Anzahl und Höhe der Türme skalieren je nach Spielerzahl. Jede Karte zeigt, welche Baustoffe sie benötigt und wieviel Punkte und Rubel ihre Fertigstellung ausschüttet. Auf jedem Bauabschnitt liegt außerdem ein Werkstattplättchen. Darauf ist entweder ein Würfel abgebildet oder eine Ressource. Wer einen Bauabschnitt reserviert, tauscht Werkstattplättchen gegen Banner-Marker. Vorteil: Ich allein kann diesen Abschnitt fertig bauen. Vorschrift: Ich darf immer nur die unterste, freie Karte eines Turmes beanspruchen; wildes Rumreservieren ist verboten.

Je größer der Turm, desto mehr Ruhmpunkte wirft er in der Schlusswertung ab. Die bekommt, wer pro Turm die Mehrheit an fertigen Bauteilen hält. Für den zweiten Platz gibt es immerhin die Hälfte der Punktzahl, für den dritten Platz nur noch die Hälfte der Hälfte. In einer Zweierpartie gibt’s den Gesamtwert des Turmes oder ein Drittel davon, und bei Gleichstand gar keine Punkte. Auf diese Weise ge‐ hen wir Turm für Turm durch. Na, haben Sie die Schlusswertung verstanden? Keine Sorge, die Anleitung liefert ein erhellendes Beispiel. Aber ́nen Haufen Rechnerei haben Sie am Ende trotzdem an der Backe. Während des Spiels dafür ordentlich Gerangel, im Fachjargon Interaktion, um die besten und meisten Bauplätze.

Reservieren ist die erste von drei Aktionsmöglichkeiten. Kommen wir nun zur zweiten, der Fertigstellung von Bauabschnitten. Pro Bauaktion darf ich maximal drei Baustoffe auf meine reservierten Karten verteilen. Ist ein Bauabschnitt vollständig bestückt, drehe ich die Karte auf ihre fertige, rote Mauerwerkseite. Für meine Mühen erhalte ich die angegebenen Baupunkte und Rubel. Leider ist der Zar ein höchst ungeduldiger Bauherr. Wer auf reservierten Abschnitten unterhalb des gerade gebauten sitzt, kassiert jetzt Minuspunkte. Der Zar ist aber auch ein Freund des Schönen, er wünscht Verzierungen an seinem Sakralbau. Die geben mächtige Ruhmpunkte und zählen bei der Ermittlung der Mehrheiten dazu.

Moment mal! Baupunkte? Ruhmpunkte? Welche denn jetzt? Kurze Antwort: Beide. DIE ROTE KATHEDRALE ist eins dieser Spiele, das mit zwei Punktarten auf einer Leiste jongliert. Am Anfang kommen auf einen Ruhmpunkt vier Baupunkte. Dann verringern sich die Abstände um jeweils einen Punkt bis hin zum Gleichschritt. Aha, Taktik ick hör dir trapsen. Erst in Verzierungen machen, danach auf Baupunkte gehen? Funktioniert leider nicht, weil Sie lediglich vier davon haben. Sprich eine Tür, zwei Fenster, ein Kuppelkreuz. Und dazu braucht es fertige Bauabschnitte. Bloß mit Verzierungen kommen Sie auf Dauer nicht weit. Da zeigen Ihnen die anderen schnell die lange Baupunktenase. Die Verzierungen sind eher als kleine Ärgernisse gedacht, die sicher geglaubte Mehrheiten mal eben kippen können. Böse, böse.

DIE RECHENMEISTER DES ZAREN

Bleibt noch die Frage nach der dritten Aktionsmöglichkeit. Wie generiere ich Baustoffe? Über den „neuartigen Würfelmechanismus“ verkündet die Schachtelrückseite. Aha. Den Hauptspielplan ziert ein Rondell versehen mit fünf verschiedenfarbigen Würfeln. Das Rondell ist in Viertel und Achtelkreise unterteilt. An jedem Viertel liegt eine Einflusskarte mit kleineren Zusatzaktionen. Über jedem Achtel liegt ein Plättchen, das ein oder zwei Ressourcen einer Sorte zeigt. Jedes Achtel hat außerdem Platz für drei Würfel. Die Augenzahl des auserkorenen Sechseiters gibt die Anzahl der Felder vor, um die ich ihn weiterziehen muss. Nach der Würfelbewegung erhalte ich Ressourcen in Höhe der Anzahl der Würfel in dem neuen Achtel, multipliziert mit der Anzahl der abgebildeten Ziel-Ressource. Und sollte ich für diesen Würfel ein Werkstattplättchen besitzen, darf ich das jetzt auch aktivieren. Nach Adam Riese und Dimitri Zwerg macht das… ‚Die Rechenmeister des Zaren‘. Wahlweise auch ‚Die Grübelmeister‘ oder ‚Die Stanzmeister‘. Wollen Sie mal über meinen Spielplan fühlen? Überall Einkerbungen! Hm, wenn der rote Würfel jetzt drei Felder wandert, kriege ich da drüben vier Holz. Tack-tack-tack, stanzt ein Zeigefingernagel das Rondell. Vielleicht bewege ich aber doch lieber den weißen, tack-tack-tack-tack-tack, das bringt mir sechs Steine und ein Gold. Blöd, Stein brauch‘ ich grad gar nicht. Aber bei Stein liegt die gute Einflusskarte… Zu allem Grübelüberfluss dürfen der weiße Würfel sowie der Würfel der eigenen Spielfarbe Felder weiterziehen, gegen Bezahlung versteht sich. Ein ums andere Mal tönt es deshalb: …tack- tack-tack-tack-tack-tack… und „Sekündchen bitte, muss kurz neu überlegen!“

EIN SCHUSS GLÜCK ZUM TÜFTELN

Puh, diese Art von Kathedralenbau hört sich nach Beschäftigung, Fingerübung, Grübelei plus Rechnerei an, oder? Ist auch so. Und macht trotzdem Spaß. Zugegeben, mir erst ab der zweiten Partie. Mittlerweile würde ich mich auch nicht mehr sträuben, DIE ROTE KATHEDRALE als spielerisches Kleinod zu bezeichnen. Aus dem Grund, dass hier hohe Entscheidungsdichte und -vielfalt auf engstem Raum bei überschaubarer Dauer zusammentreffen. Das Spiel ist Tüftelaufgabe und Wettlauf zugleich. Wann und wo reserviere ich was, und wie nutze ich geschickt das Würfelrondell, um mir Mehrheit und Punkte zu sichern? Und zwar flott. Denn sobald wer sechs Abschnitte fertig hat, ist Schluss. Nach rund einer Stunde Spielzeit.

Dabei hängt gar nicht so viel von der einzelnen Entscheidung ab. Geht auch gar nicht. Das berüchtigte Quäntchen Glück bzw. Unplanbarkeit spielt mit, wenn nach jeder Bewegung alle Sechsseiter in diesem Sektor neu gewürfelt werden. Letztlich macht die Summe meiner Entscheidungen die Kathedrale und mein Punktekonto fett. Und das ist richtig so. Schließlich haben wir es hier mit einem Spiel auf Kennerniveau zu tun. Da geht es um spielerische Leichtigkeit, nicht um knallhartes Durchkalkulieren oder extreme strategische Tiefe. Gepaart mit der stimmungsvollen Illustration, der launigen Interaktion und dem wirklich neuartigen Würfelmechanismus stellt DIE ROTE KATHEDRALE ein empfehlenswertes Gesamtpaket dar, das einiges an Wiederspielreiz bietet. Aber was, wenn sämtliche Baupläne in allen Konstellationen durchgespielt sind? Vielleicht in den Solomodus wechseln und gegen den virtuellen Spieler Iwan antreten. Der ist zwar ein Baufuchs und hält Sie auf Trab, macht den Kathedralenbau aber auch nicht zum Dauerbrenner. Hoffen wir also auf ‘ne Erweiterung. ‚Die Bernsteinschnitzer des Zaren‘. Oder so. Doch bis dahin haben Sie mit der Kathedrale noch gut zu tun.

Astrid Diesen

Isra C. und Shei S.: DIE ROTE KATHEDRALE für 1 – 4 Personen mit Illustration von Chema Román und Pedro Soto bei KOSMOS 2021, Spieldauer 30 – 120 Minuten

Gelbe Zettel

ac: »Das nenne ich mal eine gut gefüllte Schachtel mit einem ansprechenden Inhalt. Können sich die anderen Verlage bitte eine Scheibe davon abschneiden?«


pen: »Vier Pluspunkte: überraschendes Würfelrondell, interessante Punktleiste, gewichtige Verzierungen, kompakte, gut gefüllte Schachtel.«


wf: »Guter Würfelmechanismus, mir aber zu viel Kleinklein.«